Lipezk
Danke, Peter, wenn ich jetzt noch eigene Fotos im Schuhkarton hätte... :( da könnte ich richtig was draus machen. Ich hoffe, dass jeder, der hier mitliest, begreift, dass in den alten Schuhkartons auf dem Dachboden
unsere Geschichte schlummert, die die Nachwelt nicht mehr kennen wird, wenn man sie achtlos wegwirft.
Peter Achs schrieb:
Das sind die Erinnerungen von Flugzeugführern und Technikern, die bis 1945 bei der E-Stelle Rechlin gearbeitet haben. Je nach Autor ist die Qualität und Ausführlichkeit der Beiträge sehr unterschiedlich. Es sind in den 70er Jahren drei Bücher im Selbstverlag erschienen.
Diese
'Rechliner Briefe' sollen inzwischen ziemlich rar, um nicht zu sagen:
vergriffen sein. ;)
Army Aviator schrieb:
Sehr gerne würde ich noch mehr Bilder aus der verrückten Zeit zwischen den Kriegen bestaunen!
Oh ja,
verrückte Zeiten waren das, Army Aviator! Das kannste wirklich laut sagen.
Man stelle sich vor: in Deutschland rebellierte die Öffentlichkeit gegen die alliierten Siegermächte des (Ersten) Weltkriegs, und paramilitärische Einheiten (Deutscher Stahlhelm, SA-Truppen, Brigade Ehrhardt und diverse weitere Freikorpse) führten Straßenschlachten gegen teilweise ähnlich militante kommunistische Organisationen, während sich die Reichswehr klammheimlich mit ihrem stalinistisch regierten, sowjetischen Gegenpart verbündete.
Das Bündnis war aber von deutscher Seite nur Mittel zum Zweck der Wiederaufrüstung. Große Teile in Bevölkerung und Politik, nicht zuletzt das konservative, deutschnationale und monarchistische Lager, fühlten sich vom sog. 'Versailler Diktat' unerträglich belastet. Es gärte im Volke, wie man zu sagen pflegt. Die öffentliche Ordnung war eher eine Unordnung: die Reichsregierungen lösten sich fast jährlich ab, es wurde mit Notstandsgesetzen regiert, auch schon mal geputscht, und auf den Straßen wurden Argumente mit Steinen und Knüppeln ausgetauscht, wie ein Blick in die Geschichtsbücher zeigt.
Vor diesem Hintergrund wird die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion ebenso verständlich wie das Katz-Maus-Spiel der deutschen Rüstungsbetriebe mit den alliierten Kontrolleuren. Dabei war der größte deutsche Flugzeughersteller, seines Zeichens eigentlich ein Niederländer, ebenfalls ein führender Kollaborateur. Bei dem sich abzeichnenden Ende des Ersten Weltkriegs hat er insbesondere seine wertvollen Fokker D.VII in Baugruppen und als Einzelteile nicht nur waggonweise, sondern eisenbahnenweise in die Niederlande geschmuggelt und damit dem Zugriff durch Beschlagnahme entzogen - und außerdem den Grundstock geschaffen, um von seinem Heimatland aus die zivile und militärische Nachkriegsproduktion der Fokker-Werke anzukurbeln. Anthony Fokker hat dabei als Geschäftsmann gehandelt und beide Seiten - genau genommen die ganze Welt - mit seinen begehrten Flugzeugen versorgt. :D
Aber auch die deutschen Luftfahrtorganisatoren haben damals nicht geschlafen, denn bereits 1921, also noch vor dem Rapallo-Vertrag und vor der Freigabe der deutschen Zivilluftfahrt durch die Weltkriegsalliierten, wurde die DERULUFT (Deutsch-Russische Luftverkehrs A. G.) gegründet, und es wird angenommen, dass auch künftiges Bomberpersonal auf diese Weise in den Genuss von Nachtflug- und Langstreckenausbildung kam, so wie es später unter der Organisation der Luft-Hansa A. G. und der vorgeblichen Reichsbahn-Frachtfliegerei ebenfalls Praxis war.
Wolfgang Falck erinnert sich jedenfalls in seinem Buch daran, dass die deutsche Ausbildungsstätte in Lipezk auch für die Sowjets von Interesse war:
Falkenjahre.de schrieb:
"In jenem Sommer [des Jahres 1932] traf eine Erprobungsgruppe aus dem brandenburgischen Rechlin in Lipezk ein, um hier alles auf Herz und Nieren zu testen, was unter den Augen der Entente in Deutschland nicht getestet werden konnte: neue Flugzeugtypen, Triebwerke, Waffen, Zieleinrichtungen, Bomben, Navigationsinstrumente, Funkgeräte und anderes.
Mit der deutschen Erprobungsgruppe kamen auch 15 oder 20 Offiziere der Roten Armee aus Moskau. Sie hatten das verbriefte Recht, an allen Versuchen teilzunehmen, alles zu beobachten und anzufassen, Fotografien und Kopien zu machen – kurz: sie waren Teil des Teams. Hin und wieder mußten wir während unseres Flugdienstes russische Offiziere an den Füßen aus unseren Flugzeugen herausziehen, weil sie irgendwo tief im Rumpf gerade etwas untersuchten oder fotografierten.[*]
Wir verbrachten eine wundervolle Zeit in Lipezk, mit täglichem Flugdienst, soweit es das Wetter erlaubte, und täglichem Sport einschließlich Schießen."
*Das erinnert irgendwie an japanische Wirtschaftsdelegationen im Westdeutschland der 1970er Jahre. :D
Ein weiterer Flugzeugtyp, der anfangs in der Ausbildungsstätte Lipezk Verwendung fand, war die Junkers Ju 21. Sie wurde speziell für den Export entworfen und – ebenfalls wegen der Restriktionen des Versailler Vertrages – im Ausland gebaut, genauer gesagt in Moskau-Fili, wo 1923 die Serienproduktion anlief. Die Sowjetunion war daher auch der wichtigste Abnehmer dieses Modells, von dem 122 Stück vom Band liefen, und die Rote Luftwaffe ersetzte die Polikarpow R-1 (Lizenzbauten der DeHavilland DH.9A) durch diesen Ganzmetall-Hochdecker.
Seine Leistungen, insbesondere Steigleistung und Flugdauer, überzeugten die Erprobungsstelle in Lipezk aber nicht, und er wurde dort 1926 von der Heinkel HD 17 abgelöst. Auf dem Bild sieht man eine Ju 21 mit abwerfbaren Außentanks an den Rumpfseiten, die ihrer vergleichsweise kurzen Flugdauer abhelfen sollten. Die abgebildete Ju 21 trägt die Aufschrift „Tjumenskij Krestjanin“ (wörtlich: „Tjumener Christ“; im sozialistischen Russland aber eher eine Redewendung für den ortsansässigen ‚Tjumener Ackerbauer’) und wurde vermutlich für Vermessungs- oder Kartierungsaufgaben in Sibirien eingesetzt.
(Foto via airwar.ru)