Spionageballone über den sozialistischen Bruderländern
Man liest: „Nachdem die Sowjetunion festgestellt hatte, dass ihre damalige Abfangjägergeneration die Lockheed U-2 nicht abfangen konnte, wurde 1958 ein Eilprogramm für einen Höhenaufklärer/Höhenjäger aufgelegt, aus dem ein Jahr später die Jakowlew Jak-25RW hervor gegangen ist.“ Das hört sich an, als hätten die Überflüge der U-2 die Sowjets überhaupt erst auf die Idee eines solchen Flugzeugs gebracht.
Schorsch schrieb:
Ich denke sie hätten ohne Probleme eine vergleichbare Maschine bauen können, die U-2 war technologisch nichts besonders kompliziertes.
Das glaube ich mal eher nicht! Um die nötige Dienstgipfelhöhe zu erreichen, wurde eigens ein Zweiwellentriebwerk für die Jak-25RW entwickelt, das Tumanski R-11W-300. Trotzdem wird berichtet, dass die VVS unzufrieden mit der erzielten Höhenleistung war, und stark vibriert haben soll die „Alraune“ auch, ganz abgesehen von der hohen Arbeitsbelastung des Piloten beim Bedienen der unzureichend automatisierten Instrumente. Um Gewicht einzusparen, wurde auch eine unbemannte Version der ‚Mandrake’ gebaut, die Jak-25RW-II, die aber schließlich nur als hochfliegende Zieldrohne für die PVO zum Einsatz kam.
Die Jak-25RW soll aber als Aufklärer entlang der Westgrenze der Warschauer Vertragsstaaten und sogar über China, Pakistan, Indien, Nordjapan und dem Nahen Osten eingesetzt worden sein. Hierüber habe ich bisher noch nichts gehört. Weiß jemand Näheres, und waren diese Einsätze konfliktträchtig?
In ihrer Zweitrolle als Höhenjäger wurden einige Jak-25RW angeblich mit einer einzelnen NR-23-Bordkanone ausgestattet und zu Abfangtests eingesetzt. Da die Jak-25RW auf ihrer Gipfelhöhe von 20.000 m ebenso wie die U-2 an der kritischen Machzahl flog, war sie mangels eines nötigen Geschwindigkeitsüberschusses als Abfangjäger einer U-2 aber von vornherein ungeeignet. Hierzu bedurfte es eines hoch fliegenden Überschallflugzeugs oder einer weitreichenden Boden-Luft-Rakete.
Die Abfangtests waren wohl viel eher gegen westliche Aufklärungsballone gerichtet, die meist in 13.000 bis 15.500 m (Ballontyp 66CT) bzw. bis 18.000 m Höhe (Ballontyp 128TT) unterwegs waren. Voraus gesetzt, man erreichte sie, konnte man wasserstoffgefüllte Ballone abschießen; und ihre heliumgefüllten Geschwister konnte man wenigstens durchsieben und damit langsam von ihrer Einsatzflughöhe herunter holen.
Derlei Ballone waren klassische Vorläufer der Satellitenaufklärung, und in den 1950er Jahren betrieben die USA mit dem sog. „Waffensystem WS-119L“ Projekte wie ‚Drag Net’‚ ‚Grandson’, ‚Grayback’ oder ‚Genetrix’, die aber bei Weitem nicht den Bekanntheitsgrad der bemannten Aufklärungsflüge erreichten, weil sie zum einen ‚top secret’ waren und zum anderen gern als Wetterballone bezeichnet wurden. Erst 1998 wurden die US-Akten über diese Programme freigegeben.
Die Ballon-Einsätze, die von den ‚Air Intelligence Service Squadrons’ (AISS) der USAF zumeist von Westdeutschland (
Giebelstadt und Oberpfaffenhofen) und der Türkei (Adana/Incirlik) sowie seltener von Norwegen (Gardermoen) und Schottland (Everton) aus gestartet wurden, waren aber nicht von dem erhofften Erfolg gekrönt, da die Ballone den Launen der Windverhältnisse ausgeliefert waren und daher nicht direkt – und nicht in der Idealhöhe - über ihre Ziele gelenkt werden konnten. Die Aufnahmen wurden in vorprogrammierten Zeitabständen von mehreren Minuten geschossen, während sich die Gondel langsam um die eigene Achse drehte. Oberhalb 28.000 m Höhe platzten die Ballone und unter 15.000 m Höhe waren sie leicht abzuschießen. Mindestens fünf von Westdeutschland aus gestartete Ballone sind von der tschechoslowakischen Luftwaffe abgeschossen worden - möglicherweise noch bevor sie ihre Einsatzhöhe erreicht hatten.
Die Sowjets haben ebenfalls einige Ballone abgeschossen und offiziellen Protest beim ‚Absender’ und der Fédération Aéronautique Internationale (FAI) eingereicht. Die USAF hat sich dann mit der Erklärung entschuldigt, dass ihre Ballone halt vom Kurs abgekommen seien. Gekennzeichnet waren sie ohnehin alle als Wetteraufklärungsgeräte, und selbst die beteiligten Militäreinheiten wie z. B. die Luftrettungsstaffeln hielten sie mangels Einweihung für harmlose Wetterballone.
Nach Verlassen des feindlichen Luftraums wurde die etwa kühlschrankgroße Ballonlast (i. d. R. eine 200-kg-Aufklärungskapsel vom Typ
AN/DMQ-1) entweder automatisch per Zeitprogrammierung oder aber bei Sichtkontakt von einem speziellen Flugzeug aus per Funksignal ausgeklinkt. Der schwimmfähige, in Leuchtfarbe gestrichene Fiberglas-Behälter schwebte dann mitsamt seinen schaumgummi-isolierten Großformatkameras am Fallschirm hernieder und wurde im Flug ‚aufgegabelt’.
Wenn dies nicht glückte oder nicht möglich war, sank der Behälter zu Boden bzw. zu Wasser und die nächstgelegene Luftrettungsstaffel in Alaska, Südkorea, Japan oder Taiwan wurde alarmiert, deren Hubschrauber bzw. Flugboote dann den Funkrufton der Gondel orten mussten, um sie entweder zu bergen oder zumindest zu zerstören.
Im Idealfall wurden die Aufklärungsgondeln, nachdem sie das nördliche Eurasien überquert hatten, unter Sichtflugbedingungen mit einer Fangvorrichtung, die an einem speziellen Flugzeug wie der
Fairchild C-119J angebracht war, direkt aus der Luft geborgen. Der 456th Troop Carrier Wing der USAF aus Charleston/South Carolina unterhielt um 1955/56 zu diesem Zweck acht C-119J ‚Flying Boxcar’, und weltweit sollen damals insgesamt fünfzig solcher Maschinen bereit gestanden haben.
Die Bergungsrate eigener Ballone durch die USAF soll bei nur 7 - 10% (statt der erhofften 33%) gelegen haben, aber immerhin wurden bis zum Programmstopp 1956 acht Prozent der Erdoberfläche Chinas und der Sowjetunion fotografiert, wertvolle Höhenwetterdaten sowie Informationen über die Funktionsweise, Stärke und räumliche Verteilung der sowjetischen Luftabwehr gewonnen. All’ diese Informationen flossen in die Planung der bemannten Aufklärungsflüge ein.
Trotzdem richteten die tausenden Aufklärungsballone politischen Schaden an - vor allem diejenigen, die intakt in der UdSSR geborgen wurden. US-Präsident Eisenhower war nicht begeistert von diesem illegalen Aufklärungsmittel, nachdem die Sowjets das Angebot gegenseitiger „Open Skies“ abgelehnt hatten, und er nannte das ganze ‚WS-119L’ einen „schmutzigen Trick“. Im Februar 1956 ordnete er die Einstellung dieser Form der Ballonaufklärung an, und sie wurde weitgehend durch bemannte Aufklärungsflüge ersetzt. Hierzu wurden vor allem die U-2, die RB-47 und RB-57 eingesetzt.
Und ab 1959 wurden die Aufklärungsballone dann durch die technisch weitaus zuverlässigeren und effektiveren ‚Corona’-Satelliten abgelöst, deren erste Generation das selbe Kamerasystem verwendete, das in den Ballongondeln des ‚WS-119L’ steckte.
Warum das OKB Jakowlew allerdings erst 1971 einen speziellen Ballon-Abfangjäger (die Jak-25PA mit zusätzlicher Spannweite) gebaut hat, kann ich mir nicht erklären. Jedenfalls blieb es bei dem einen Prototypen, und mit seinen T-11W-300-Triebwerken soll er ohnehin untermotorisiert für seine angepeilte Einsatzhöhe gewesen sein.
Gruß
Luftpirat
(Foto einer Jak-25RW via ‚Les Ailes Rouges’)