Moin Kai,
Deiner Beurteilung von Erdogan möchte ich nicht widersprechen. Ich halte ihn für einen türkischen Nationalisten, der alles brutal niedermacht, was die Türkei schwächen oder ihm im Weg stehen könnte. Deshalb auch die Unterdrückung kurdischer Autonomiebewegungen. Seine wesentliche Schwäche ist das absolute Unverständnis von komplexen volkswirtschaftlichen Zusammenhängen. Das sieht man an der Wirtschaftssituation der Türkei.
Ich frage mich aber, ob ein Regierungswechsel hinsichtlich der "großtürkischen (pan-turkistischen) Außenpolitik" zu einem Wechsel führen würde. Die Zustimmung zu einer
Union (Organisation der Turkstaaten) ist deutlich größer als nur auf Erdogan's Klientel beschränkt. Und diese Zustimmung ist nicht nur ein Reflex in der osmanischen Türkei, sondern
auch in den anderen türkisch-sprachigen Staaten recht hoch.
Die Länder in Vorder- und Mittelasien fühlen sich durch Sprache, Geschichte und eine gemeinsame Religion verbunden. Nun rücken sie auch politisch und wirtschaftlich zusammen.
Nach dem "Kalten Krieg" entfällt die Zweiteilung zwischen Ost und West. Das sowjetische Imperium ist zerfallen. Putin möchte es als "Groß-Russland" wieder herstellen und betreibt das unter dem Narrativ vom Schutz russischer Minderheiten in der Ukraine (den Status der Ukrainer als eigenes Volk lehnt er ohnehin ab) was allerdings auch Auswirkungen auf die baltischen Staaten und Kasachstan hätte - hat aber auch in Russland selbst mit ethnischen Ablösungstendenzen zu tun. Und jeder Schritt, den russischen Einfluss wieder auf sowjetische Größe zu bringen bedroht die neuen, ex sowjetischen Staaten und Führer in ihrer Selbstständigkeit.
In den nachsowjetischen "Leerraum" stoßen Akteure von außerhalb des früheren Sowjetimperiums nach. Das ist zum einen der "globale Westen" - insbesondere auch Europa (EU) in den osteuropäischen und baltischen Staaten, zum anderen sind das primär China und die Türkei in Zentralasien entlang der alten Seidenstraße.
Die Türkei hat da aufgrund von Sprache, Geschichte und eine gemeinsame Religion eine sehr intensive Ausgangsbasis. Die Volkswirtschaften der Staaten ergänzen sich. Während die Türkei aus den OTS-Ländern vor allem fossile Rohstoffe, Metalle und Erze sowie Agrarerzeugnisse bezieht, exportiert sie dorthin bisher Textilwaren, Maschinen, Arzneimittel und Konsumgüter.
Im Verhältnis zwischen China und Russland wird ein - durch den Ukraine-Krieg geschwächtes -
Russland zusehends zum "Juniorpartner" der Chinesen.
China könnte durchaus Interesse daran haben, dass Russland noch mehr an Stärke einbüßt und so mehr und mehr zum Juniorpartner der Chinesen wird. Und beide versuchen, mit dem Iran einen "Dreierbund" auf die Beine zu stellen. Das wird
mit gemeinsamen trilateralen Militärmanövern deutlich.
Und das fördert wieder die Befürchtung einer neo-sowjetischen Hegemonie bzw. chinesischen Dominanz sowie die Orientierung zentralasiatischer Staaten in Richtung Türkei. Die Türkei hätte da auch keine Dominanz sondern wäre für Zentralasien mehr "Partner auf Augenhöhe" - insbesondere auch aufgrund der Größe der zentralasiatischen Staaten und ihrer Ressourcen.
Damit ist aber zwangsläufig auch eine Ablösung der Türkei von der NATO und der US-Dominanz dort verbunden. Das Verteidigungsbündnis mit der NATO hat für die Türkei auch an Notwendigkeit verloren. Die Sowjetunion gibt es nicht mehr. Ein neues Bündnis mit zentralasiatischen Staaten und der Ukraine (die wehrtechnischen Industrien der Ukraine und der Türkei ergänzen sich gerade im Luftfahrtbereich) würde für die Türkei selbst wohl sogar mehr regionale Sicherheit mit sich bringen. Die Türkei wäre nicht mehr Front- und zugleich Randstaat eines atlantischen Bündnisses, sondern Kern einer regionalen Gruppierung deren "Front" sich deutlich von den türkischen Grenzen entfernt verlagert hat.
Das "Freischwimmen" vom Dreierbund "Russland - China - Iran" verlangt für die zentralasiatischen Turk-Staaten aber auch entsprechende militärische Unabhängigkeit. Und diese militärische Unabhängigkeit kann die Türkei - insbesondere im Verbund mit den ehemaligen sowjetischen Rüstungsschmieden der Ukraine - gewährleisten. Am engsten ist die Zusammenarbeit zwischen der Türkei und Aserbaidschan. Ankara liefert Baku seit Jahren Rüstungsgüter, darunter im Krieg um die Exklave Berg-Karabach 2020 eingesetzte Drohnen. Auch die Länder in Zentralasien gehören zum Kundenstamm der türkischen Rüstungsindustrie, wie das deutschsprachige
Zentralasienportal Novastan schreibt.
Die türkischen Fighter (MMU (Milli Muharip Ucak) müssen dabei nicht auf dem Stand der F-35 und neuerer US-Modelle sein. Es reicht, wenn sie gegenüber insbesondere russischen (und auch chinesischen) Modellen ebenbürtig sind. Und das Beispiel Russland "mit seinem Papiertiger Su-75" hast Du ja selbst gebracht.
Je früher die Kooperation mit den ex-sowjetischen Rüstungsschmieden der Ukraine und den Industrien der Türkei erfolgt, desto aktueller sind die jeweils eingebrachten Spezifika. Und desto wettbewerbsfähiger ist dann das gemeinsame Produkt.
Kurz und knapp: selbst die Abwahl von Erdogan wird an der groß-türkischen Außenpolitik und der Bildung von regionalen Mächtegruppen nichts ändern. Es kann aber dazu führen, dass die Wirtschaft der Türkei aus den derzeitigen Turbulenzen kommt und wieder gestärkt wird.